„So seht nun sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt, nicht als Unweise, sondern als Weise, und kauft die Zeit aus, denn die Tage sind böse.“ – Epheser 5,15-16
Angefangen hat alles mit einer Anfrage: Ein Ukrainer sucht für seine fünf Familienmitglieder auf der Flucht aus der Ukraine eine Mitfahrgelegenheit von Chisinau, der Hauptstadt von Moldau, nach Düsseldorf. Diese Suche postet mein Bruder am Freitag, den 4. März, in unsere Familienchatgruppe, als er diesem Ukrainer unterwegs an der Grenze von Ungarn nach Rumänien begegnet ist.
Die erste Überlegung: Wo fünf gestrandet sind, gibt es gewiss noch mehr Kriegsvertriebene. Zu dem Zeitpunkt haben weder Claudia noch ich nicht geahnt, dass wir 12 Tage später in einem Charterbus nach Chisinau sitzen würden.
Auf der Mitgliederversammlung unserer Gemeinde am nächsten Tag kommt die Frage auf, wie wir als Gemeinde den Menschen auf der Flucht in der Ukraine helfen können. Pakete zum Leben packen? Spenden? Pastor Andreas fragt zurück, wer sich mit unseren zentralen Diensten wie der Allianzmission oder der FeG Auslandshilfe in Verbindung setzen könne, um konkrete Unterstützungsmöglichkeiten in Erfahrung zu bringen. Putins Krieg gegen die Ukraine ist jetzt 11 Tage alt.
Zu Hause gehen wir an diesem ersten Märzwochenende unserem einzigen privaten Kontakt nach Moldau nach: Claudias erstes Au-pair Liliana, die sich 2007 bei uns in der Gemeinde hat taufen lassen, kommt von dort. Sie hat eine Cousine in Chisinau, die wiederum den Kontakt mit einem der Pastoren aus der Baptistenkirche Isus Salvatorul (Jesus der Erlöser), Viorel, herstellt, der selbst aktiv vor Ort in der Flüchtlingshilfe engagiert ist.
Montag stellt sich sehr schnell heraus, dass die FeG Auslandshilfe überfordert ist. In der Konsequenz müssen wir selbst aktiv werden. Ich fange an, Angebote von Busunternehmen einzuholen, grenze mein eigenes – persönlich zu bewältigendes – Engagement ein auf den Transfer der Flüchtenden von Chisinau nach München. Im Hinterkopf häufen sich Fragen und Unwägbarkeiten: Wie viele Flüchtlinge sind in Chisinau gestrandet, und wie viele davon wollen so weit nach Westen? Wie viele Bustouren sollen wir stemmen? Ist unser Kontakt vor Ort belastbar? Welche Route ist die beste? Sind Flugzeug oder Bahn nicht doch die bessere Alternative?
Im Laufe der zweiten Märzwoche verdichtet sich das Netzwerk an Helfern mit Vorerfahrung. Unsere Kontakte können verifiziert werden. Auch die Angebote der Busunternehmen können plausibilisiert und verglichen werden. Immerhin haben wir es bisher weder mit der Organisation von Bustouren über 3.600 km noch mit den Baptisten in Moldau zu tun gehabt. Auch das Aufnahmezentrum der Stadt im Münchener Norden suchen wir auf, um die Kapazitäten abzufragen und um uns einen Eindruck von den örtlichen Gegebenheiten zu verschaffen.
Inzwischen sind genug Daten zusammengekommen, um dieses Hilfsprojekt der Gemeindeleitung vorzustellen, die dies auch sofort zu einem Hilfsprojekt unserer Gemeinde machen will. Genau einen Freitag nach der Anfrage nach einer Mitfahrgelegenheit geht der Spendenaufruf über unseren Pastor an die Gemeinde und auch darüber hinaus raus. Keine vier Stunden später haben wir fast die Kosten für den ersten Bus zusammen.
In unseren beiden Sonntagsgottesdiensten stelle ich das Projekt vor. Unser Brückenkopf in Moldau ist ein Jugendzentrum und Kinderdorf, dass auf einem Grundstück des Bundes der EFG in Baltata von der Stiftung „Brücke zum Leben“ errichtet wurde und immer noch errichtet wird, und das von der Union der Baptisten in Moldau betrieben wird. Bis zu 370 Flüchtlinge aus der Ukraine werden dort im Jugendzentrum versorgt. Vitali, unser Gastgeber in Baltata, koordiniert die Busse nach Deutschland. Sein Anliegen ist es, über das Netzwerk der EFG in Deutschland auch Gastfamilien zu vermitteln, so dass diese Ukrainer behütete Unterkunft finden. Unser Bus soll der Bus Nr. 18 sein, den er nach Deutschland schickt.
Montag bestelle ich unseren Bus mit 80 Sitzplätzen zur Abfahrt am Mittwochmittag. Ich bin froh, dass Claudia sich von sich aus bereit erklärt, mitzukommen; sie könne mich ja nicht allein fahren lassen. Und die Besetzung als Paar – ein Mann und eine Frau – soll sich in der Dynamik, die sich auf Hin- und Rückfahrt entwickeln wird, als optimal erweisen.
Die Lebensmittelspendenaktion wird kurzerhand vorgezogen, es kommen binnen drei Tagen 900 kg an Hilfsgütern und in letzter Minute acht Babysitzschalen zusammen – dank vieler kurzentschlossener und tatkräftiger Helfer!
Mich erreicht ein Anruf von Alexander aus unserem Helfernetzwerk: Ob wir einen schon bezahlten Bus mit Flüchtlingen Dienstag in Empfang nehmen können? Ja, sicher, können wir, was für eine Frage. Nur wie? Ich erhalte die Passagierliste. Erstmalig konfrontiert mit Namen und Einzelschicksalen steigt wieder diese ohnmächtige Wut in mir auf. Mir kommen die Tränen.
Und der nächste Aufruf, diesmal nach russischsprachigen Helfern, geht raus. Svetlana und Max stehen dann mit Andreas, Damaris und mir am Dienstagabend am städtischen Aufnahmezentrum, am Tor 16 der Messe München bereit. Für uns ist dies eine sehr hilfreiche Erfahrung für „unseren“ Bus, wir können uns mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut machen. München hat offensichtlich aus der Flüchtlingskrise 2015 gelernt. Die Aufnahme ist effizient und professionell organisiert. Am nächsten Morgen begleiten Max und Andreas die große Mehrheit der Angekommenen zum Hauptbahnhof, von wo aus sie mit der Bahn zu ihren Kontaktadressen weiterreisen.
Mittwoch: Letzte Vorbereitungen zur Abfahrt laufen. Helfer nehmen weitere Lebensmittelspenden entgegen, die alle von Isabel für die Ausfuhr katalogisiert werden. Ich habe bereits mit dem Zoll telefoniert und bei einer Spedition die Ausfuhrerklärung angefragt. Letztendlich beläuft sich der Zollwert der Hilfsgüter nach spitzer Berechnung auf unter 1000 Euro, was eine Ausfuhrerklärung nicht nötig macht.
Der Bus mit unseren drei Fahrern Robert, Albert und Wolfgang ist bereits um 12 Uhr beladen, der Proviant von Johanna für die Rückfahrt und die Sitzschalen im Fahrgastraum verstaut. Pünktlich um 13 Uhr fahren wir los, und der Bus frisst Kilometer: 1.800 km liegen vor uns.
Wir fahren die Nacht durch. Wie geplant überqueren wir die Karpaten am frühen Donnerstagmorgen. Grenzübertritte sind bisher kein Problem. Nur die Einfuhr der Hilfsgüter nach Moldau soll unseren Schnitt ordentlich nach unten drücken. Nach bürokratischem Hickhack mit Zöllner Nr. 1 kommt nach fünf Stunden und – wie wir erst im Nachhinein erfahren sollen – auf Druck von ganz oben die Importgenehmigung zu Stande.
Dann doch im Dunkeln kommen wir auf dem Campus in Baltata an, und werden dort von Vitali und Ian, der den Druck auf den Zoll initiiert hatte, herzlich begrüßt.
Die Hilfsgüter sind rasch entladen; sie werden am nächsten Tag 1:1 in die Ukraine gehen. Wir fünf Ankömmlinge bekommen noch ein Abendbrot, und werden dann im Kinderdorf in unsere Unterkünfte verteilt: Die Busfahrer bekommen ihre versprochenen Einzelzimmer, Claudia und ich werden bei Vitali und seiner Familie herzlich aufgenommen.
Bei allem Stress und Schlafmangel bleibt noch die wohltuende Gelegenheit zum persönlichen Austausch mit Vitali und seiner Frau. Wir beschließen den Abend in einem wortwörtlichen Gebetskreis auf dem Wohnzimmerteppich. Am Ende eines überlangen Tages bleibt einfach nur Dankgebet und Dankbarkeit: Dankbarkeit für die Bewahrung, Führung und Fügungen der letzten Tage, Dankbarkeit für das Gelingen bis hierhin, Dankbarkeit für alle diese Menschen, die hier den Dienst an ihren Mitmenschen erfüllen. Ich höre zum ersten Mal das Vaterunser auf rumänisch.
Ich wache ohne Wecker auf, obwohl die Nacht viel zu kurz war. Oben am Bus warten schon die ersten Passagiere viel zu früh an einem frostigen, sonnigen Morgen.
Vitali registriert die Passagiere. Problem sei, dass viele nicht weit von zu Hause weg wollen in der Hoffnung, dass der Krieg gegen ihre Heimat bald ein Ende finde. So haben wir auch zwei Passagiere, die kurzerhand nicht auftauchen, und brechen dann mit 72 Flüchtlingen keine 12 Stunden nach Ankunft wieder nach München auf. Mit an Bord sind auch einige Säuglinge, knapp die Hälfte unserer Gruppe sind Minderjährige, das Durchschnittsalter unserer Gruppe liegt bei 25 Jahren. Gott sei Dank sind auch einige Englischsprachige mit an Bord.
Die Ausreise aus Moldau und Einreise nach Rumänien und somit EU dauert diesmal nur viereinhalb Stunden. Wir kommen wieder im Hellen über die Karpaten, die Landstraße im Dunkeln durch das südliche Siebenbürgen bleibt uns aber nicht erspart. Um zwei Uhr Samstagmorgens kommen wir an der Schengen-Grenze Rumänien-Ungarn an. Hier klärt uns der Grenzer direkt darüber auf, dass wir mit ca. 5 Stunden Wartezeit rechnen müssen: Von allen Personen im Bus, die keinen Pass mit biometrischen Daten haben, müssen diese erfasst werden. Auch von den Säuglingen werden Fingerabdrücke und Passfotos gemacht.
Im Morgengrauen reisen wir nach Ungarn ein. Claudia ist mit zwei dolmetschenden Teenagerinnen im Bus unterwegs, um die Endziele der Passagiere abzufragen. Noch sind wir guter Dinge, dass die Anschlusszüge in München mit Zielen im ganzen Bundesgebiet erreicht werden können.
Es ist bemerkenswert, wie ruhig sich vor allem die Kinder während der ganzen 35-stündigen Reise im Bus verhalten haben. Um 18 Uhr am Samstagabend kommen wir an der Endhaltestelle des U-Bahnhofs München Messestadt Ost an. Alle bis auf 25 Passagiere steigen aus und werden von Svetlana und Max zum Hauptbahnhof begleitet. Die verbliebenen 25 bringen wir dann mit Maxim zum Aufnahmezentrum am Tor 16. Maxim, ein weiterer russischsprachiger Unterstützer, ist eine große Hilfe. Wie zu erwarten, kommt den Menschen der Empfang in seiner Effizienz kühl vor: Klare Ansagen, Registrierung, Armband, Corona-Tests, und alle tragen Masken. Von einem Leiter dort erfahren wir, dass in München alle städtischen Unterkünfte voll sind und die Menschen hier an der Messe noch am besten versorgt werden.
Claudia und ich packen auch unsere Sachen, Claudia fischt noch meinen Reisepass und meine Brille, die ich in Baltata verloren glaubte, aus dem Bus. Robert, dem der Bus gehört, ist beeindruckt, wie sauber und aufgeräumt dieser hinterlassen wurde.
Eine Corona-Regelung erlaubte unserem Busfahrerteam, seine Lenkzeiten in bestimmten Grenzen zu überstrapazieren. Rechnerisch hätten mit dieser Regelung zwei Fahrer gereicht, ohne die Corona-Regelung hätten es vier sein müssen. Tatsächlich sind unseren drei Fahrern die 3.600 km binnen vier Tagen förmlich in Gesicht geschrieben.
Sonntagmorgen sitze ich wieder zu Hause vor einer dampfenden Tasse Kaffee. Von Vitali erfahre ich, dass der Flüchtlingsstrom nach Moldau inzwischen stark nachgelassen habe, und dass Ukrainer wieder beginnen, zurück in ihre Heimat zu reisen. Ungewiss bleibt, für wie lange dieser Trend anhalten wird. Inzwischen wird auch das bisher verschont gebliebene Odessa, zweieinhalb Autostunden von Chisinau, angegriffen.
Was bleibt? Dankbarkeit für Führung. Dankbarkeit für Fügung. Dankbarkeit für Bewahrung. Dankbarkeit für die Ermöglichung innerhalb von zwei Wochen vom ersten Hilfsgedanken bis zur Tat. Danke, Jesus.
Und danke an Euch für alle Gebete, Spenden, tatkräftige Hilfe!
Bitte betet weiter:
- für die Geflüchteten, die hierhergekommen sind und teils noch keine Unterkunft haben,
- für alle Geflüchteten, dass sie hier gut ankommen
- für die engagierten Geschwister in Moldau für Kraft und Liebe
- für die nächsten Schritte für dieses Projekt
Und wer beim Thema Unterkunft finden helfen möchte und kann – gern auch mit Recherche, Tipps und Ideen zu unterschiedlichen Möglichkeiten in- und auch außerhalb Münchens – melde sich bitte unter ukraine@fegmso.de.
Matthias Eitschberger